Thomas Anzenhofer Nationalistische Ideologien und Literaturgeschichtsschreibung
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Das Tamilische gehört zur dravidischen Sprachenfamilie und wird von etwa 60 Millionen Menschen in Tamil Nadu (dem südlichsten Bundesstaat der Indischen Union) sowie auf Sri Lanka gesprochen. Sein umfangreiches literarisches Erbe reicht bis in vorchristliche Zeit zurück.
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Die ältesten erhaltenen Texte umfassen eine Abhandlung über Grammatik und Poetik (das Tolkkappiyam), Sammlungen „heroischer“ Dichtung (Puram) sowie eine hoch entwickelte Liebesdichtung (Akam), die mit ihrer dichten und beinahe hermetischen Natursymbolik, ihrem geradezu sparsam knappen Sprachstil und ihrer Behandlung des dichterischen Subjekts sowohl archaische als auch modern anmutende Züge aufweist. Tamil ist somit nicht nur eine der ältesten geschriebenen Sprachen des Subkontinents, sondern - so heißt es oft von tamilischer Seite - auch die einzige Sprache des indischen Altertums, die als Alltagssprache eines ganzen Volkes nach wie vor vital und lebendig ist. Diese Antiquität der Sprache ist aus heutiger einheimischer Sicht ein wichtiger Aspekt tamilischer Identitätsfindung, und zwar vor allem deshalb, weil die tamilische Sprache, zuweilen auch personifiziert als quasi-göttliche, Sarasvati-ähnliche "Mutter Tamil" (Tamilt Taay), im Verlauf der geistesgeschichtlichen Entwicklung zum zentralen Symbol der nationalen Identität dieses südindischen Volkes wurde. Zu den ideologischen Grundzügen dieser nationalen Identitätsbildung gehören beispielsweise eine häufige Neigung zum Exklusivismus gegenüber einer "brahmanischen" bzw. "arischen" Kultur, die oft als untamilisch und als ein nordindischer Fremdimport dargestellt wird, sowie ein etwas prekärer Inklusivismus hinsichtlich der anderen dravidischen Sprachgruppen bzw. Kulturen Südasiens. Definitionslinien wie diese prägten etwa nicht nur die antibrahmanischen nationalistisch- sozialreformerischen Bewegungen ab dem zweiten Jahrzehnt des vergangenen Jahrhunderts, sondern auf einer anderen Ebene auch die ungefähr parallel dazu entstandene kulturnationalistische "Nur-Tamil"- Reformbewegung (Tanittamiliyakkam) mit ihrem Anspruch, das Tamilische von sanskritischem Wortgut zu bereinigen und ihm dadurch, wie es zuweilen heißt, seinen alten Glanz wiederzugeben. Solche geistesgeschichtlichen Entwicklungen bedingten einerseits, und beruhten andererseits auf einer Neuinterpretation der eigenen nationalen (tamilischen) Geschichte: einer Neugestaltung ihres Erzählstrangs, einer Neubewertung von Quellen und Ereignissen, und zuweilen sogar einer Fortschreibung dieser Geschichte gegen den Zeitstrang in eine phantastische, quasi neomythologisch gestaltete Vorzeit übermenschlicher Wesen und versunkener Kontinente. Eine wichtige, ab einer gewissen zeitlichen Tiefe wohl sogar die wichtigste Quelle solcher Geschichtsentwürfe ist die tamilische Literatur: sie ist fast die einzige Spur, die die Sprache als zentrales Symbol der Tamilität (tamilttuvam) auf ihrem Weg durch die Zeit hinterlässt. Ihre Geschichte ist aufs engste mit der Geschichte der Nation verbunden, und die Disziplin ihrer Geschichtsschreibung gehorcht den gleichen Gestaltungs- und Interpretationsmechanismen. Somit gilt auch für sie das Diktum des italienischen Literaturgeschichtlers Remo Ceserani, die Literaturgeschichte sei der autobiographische Roman einer Nation. |
Unter diesem Gesichtspunkt sollen im Projekt Werke der tamilischen Literaturgeschichte nicht als Sekundär-, sondern als Primärliteratur, als geistesgeschichtliche Quellenliteratur ausgewertet werden. Das Ziel wird es sein, diese Wissensdisziplin, die sowohl akademische als auch populäre Zweige hat, in ihrer Gebundenheit an ihren geistes- und politikgeschichtlichen Hintergrund darzustellen und ihr so gewissermaßen ihre zeitgeschichtliche Kontextualität wiederzugeben. Thomas Anzenhofer |