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Literaturgeschichte ist keine summarische Auflistung der literarischen Werke in einer gegebenen Sprache. Wie die allgemeine Geschichtsschreibung auch basiert sie auf mannigfaltigen Wertungen, Selektionen, Traditionen usw., und muss ihr Material zeitlich, inhaltlich und formal strukturieren, um erzählbar zu werden. In vielen Teilen Südasiens ist Literaturgeschichtsschreibung ein wichtiger Bereich der kulturellen Produktion. Sie ist in den verschiedensten Institutionen verankert und wirkt sich direkt auf Universitäts- und Schulcurricula aus. In einem weiteren Sinne ist sie an der Schaffung eines allgemeinen kulturellen Ethos beteiligt. Historisch entsteht die Literaturgeschichtsschreibung hier während der Kolonialzeit im Zuge des Kulturkontakts mit dem Westen und ist Teil eines interkulturellen Transfers, zu dem auch die Idee des Nationalismus selbst gehört. Nationalistische Ideologie tendiert dazu, die postulierte Nation in die Vergangenheit zurück zu projizieren. Eine wichtige Rolle kommt dabei auch der Literatur zu: Das vorgängige literarische Erbe wird kanonisiert und als Nationalliteratur behauptet. Daneben gilt es in Südasien, sich eine literarische Moderne nationalistisch anzueignen, welche durch massive Orientierung an westlichen literarischen Normen geprägt ist. Diese beiden Aspekte, den kanonisierenden Rückgriff auf altes literarisches Erbe sowie die Assimilation und nationalistische Ausdeutung der literarischen Moderne, sollen hier anhand von regionalen Einzelstudien untersucht werden. Die ausgewählten Fälle (Hindi, Bengali und Tamil) decken verschiedene Konstellationen ab, in welchen Nationalismus bzw. Subnationalismus sich in Südasien konfigurieren. Literaturgeschichtsschreibung ist ein bedeutendes Feld der Wissensproduktion im heutigen Südasien, und steht bezüglich ihrer Entstehung und Ausprägung in engem Zusammenhang mit der Idee der Nation. Wir wollen erstmalig die ideologischen Grundlagen dieser Produktion untersuchen. Ohne die Analyse und kritische Bewertung der Gültigkeit von südasiatischer Literaturgeschichtsschreibung als Aussage über Primärquellen zu vernachlässigen, wollen wir sie selbst als Textgattung zum Forschungsgegenstand machen. Die Bearbeitung des Projekts verlangt eine Kombination von philologischen, kulturwissenschaftlichen und ethnographischen Kompetenzen. Der Vergleich zwischen den drei vorgestellten Regionen verspricht eine differenzierte Perspektive auf das Thema zu eröffnen, und sollte es ermöglichen, allgemeine Aussagen über die identitätsstiftende Funktion, hermeneutische Position und institutionelle Rolle von Literaturgeschichtsschreibung zu treffen. Dr. Hans Harder - Projektleiter
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